Leseprobe:

"Die List der Kräuterprinzess"

Die Leere in Tarinas Herzen war an diesem Abend besonders groß. Das Abendessen war ernüchternd. Die Gerichte waren wie immer vorzüglich, der große Saal übermäßig mit Kerzen geschmückt und die Musikanten spielten vortrefflich auf ihren Instrumenten. Ihr Vater hatte ihr wieder einmal einen jungen Mann vorgeführt, der um ihre Hand anhielt. Er gab sich Mühe in der Auswahl der Prinzen, doch sie waren alle nur an einer politischen Verbindung interessiert und dachten nicht an Romantik oder gar Liebe. Alle sahen in ihr so etwas wie einen Preis, den es zu gewinnen galt. Durch Schönrednerei und zustimmendes Nicken versuchte jeder von ihnen ihren Vater davon zu überzeugen, dass er der beste Schwiegersohn sei, den er sich nur wünschen könne. Doch keiner brachte eigene Ideen oder Vorstellungen ein, alle sagten immer nur Ja! zu allem, was Tarinas Vater vorschlug oder erzählte. Dieser Prinz war zwar anders, er trat kraftvoll auf und hatte eine harte, bestimmende Stimme. Doch es war mehr Furcht einflößend als schön ihm zuzuhören. Die große Narbe auf seiner rechten Gesichtshälfte machte ihr Angst. Seine Reden schienen kein Ende zu nehmen, und König Maximilian hing an jedem Wort, das Prinz Albert sagte. Seine Tischmanieren waren befremdlich. Er aß sehr wenig; und das, was er aß, prüfte er vorher sehr gründlich. Beim Kauen hörte man, wie seine Kiefer knackten und seine langen Finger wirkten wie Holzstöckchen. Alles in allem war er sehr merkwürdig. Tarina hörte schon seit Stunden seine Ausführungen über Politik und Kriegsführung an, wobei ihr auffiel, dass er überstürzt und grausam vorgehen würde. Er hielt es den ganzen Abend offenbar für völlig überflüssig, sich mit Tarina zu unterhalten und sie nach ihrer Meinung zu fragen. Als er ihrem Vater noch seine Vorstellungen von der Ehe schilderte, wurde Tarina übel. Es zeigte sich, dass er nur den einen Wunsch hegte, sein Reich so bald wie möglich mit dem ihres Vaters zu vereinen und es dann für sich zu beanspruchen. Tarinas Rolle schien dabei nebensächlich. Sie sollte sich möglichst still verhalten, sticken, sich ab und zu unter ihn legen, Kinder bekommen und großziehen. Es war offensichtlich, dass Tarina nicht die Möglichkeit haben würde, in der Politik ihres Landes mitzureden. Es interessierte ihn nicht, ob sie ihn liebte oder nicht. Es wäre ihm sogar Recht, wenn Tarina sich nach der Geburt von drei bis vier Erben auf eine entlegene Burg zurückziehen würde und ihm den Rest überließ. Doch der Verstand dieses Mannes reichte nicht aus, um ihr Land weise und gerecht führen zu können, dessen war sich Tarina sicher. Es entsprach auch nicht seinen Absichten, er wollte vielmehr so viele Vorteile wie möglich aus dieser Verbindung ziehen. Doch das würde Tarina nicht zulassen. Sie hielt es neben diesem Mann nicht länger aus. Um nicht ausfallend zu werden, musste sie den Raum verlassen und an die frische Luft gehen. Mit der lächerlichen und unhöflichen Entschuldigung, ihr sei der Wein zu Kopf gestiegen, verabschiedete Tarina sich von ihrem Vater und Prinz Albert, der wenig Notiz von ihrem Weggang nahm.  Sie brauchte einen klaren Kopf und lief deshalb in den Garten. Er lag nah am Schloss und wurde durch das Licht aus den Fenstern schwach beleuchtet. Sie liebte diesen Rosengarten besonders, weil ihre verstorbene Mutter die Gewächse noch mit eigener Hand gepflanzt hatte. Doch es war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie jemand beobachten könnte, und so entschloss sie sich, weiter zum See zu laufen. Sie nahm den alten Steinweg hinunter. Die Bäume streckten ihre Äste aus und auch das Gebüsch an den Seiten schien den Weg wieder für sich gewinnen zu wollen. Obwohl die Sonne bereits unterging, lief sie den steilen Weg ohne Schwierigkeiten hinunter, denn sie war oft als kleines Kind hier gewesen. Immer wenn die Trauer um ihre Mutter sehr groß war, tröstete sie der See und gab Tarina das Gefühl, ihre Mutter in ihrem Herzen zu spüren. An diesem Abend brauchte sie dieses Gefühl, sie war so aufgewühlt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Oft, wenn sie sich keinen Rat wusste, lief Tarina zum Grab ihrer Mutter, um mit ihr zu sprechen. Es lag aber auf der anderen Seite der Burg, am Ende des Kirchgartens, und es war bereits zu dunkel, um den Weg dorthin alleine zu gehen. Daher zog es sie an den See.  Leider konnte sie sich nicht mit Erinnerungen an ihre Mutter trösten, denn sie war kurz nach ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater hatte ihr ein kleines Portrait von der Mutter gegeben und manchmal teilte er seine Erinnerungen mit Tarina. Das geschah nicht oft, er sprach nicht gern über sie, seine Trauer war immer noch sehr groß. Doch das, was er Tarina erzählte, zeigte ihr, wie sehr er sie geliebt hatte. Seine Worte waren voller Wärme, voller Hochachtung und ein wenig Stolz.  Plötzlich kam ihr die Gegenwart in den Sinn. Sie malte sich aus, wie ein Leben mit diesem schrecklichen Prinz Albert verlaufen würde. Nie könnte sie ihn lieben! Ihr Vater hatte Tarina bisher nicht erlaubt, mit einem Mann allein zu sein, und so hatte sie noch keine zärtlichen Erfahrungen gemacht. Doch ihre alte Hebamme hatte einiges berichtet. Sie sagte, man könne an den Augen erkennen, welcher Mann zärtlich und welcher grob zu einer Frau wäre. Von Prinz Albert hatte sie nicht gut gesprochen.  Tarina empfand diesen Mann als ignorant und hochnäsig. Allein seine Gegenwart widerte sie an. Doch was, wenn ihr Vater ihr keine Wahl ließ? Nein, ihr Vater würde sie niemals zu einer Verbindung zwingen, das wusste sie genau. Aber allen Gefühlen zum Trotz durfte sie nicht vergessen, in welcher Lage das Land war. Die Zukunft stand auf dem Spiel. Der Krieg dauerte nun schon viel zu lange und ihr Vater würde ihn sicher nicht mehr lange von hier fern halten können. Er bemühte sich immer redlich, Tarina nicht zu viel zu erzählen, doch sie wusste viel mehr, als er ahnte. Sie würde einen Weg finden müssen, ihrem Vater zu helfen. Aber ihr Innerstes hinderte sie daran, deshalb mit diesem widerlichen Prinzen eine Verbindung einzugehen. Sie staunte immer wieder über die stille Oberfläche des Sees, die ihr Schloss vor einem schönen Sonnenuntergang spiegelte. Der Garten oberhalb des Sees lag direkt neben dem Rosengarten, ein kleiner Abhang trennte sie in zwei Ebenen. Der Rosenduft zog meist bis in diesen Teil des Gartens. Der Bereich des Gartens hinter dem See führte bis zur Schlossmauer. Er war etwas verwildert und nicht sehr schön hergerichtet, doch diesen Teil mochte sie als Kind besonders gern. Die Mauer endete direkt in der kleinen Stadt. Früher waren dort Felder gewesen, doch das Dorf war im Lauf des Krieges zu einer Stadt gewachsen.  Die Bäume im Garten neigten sich mit dem Wind und das Schilf am Seeufer raschelte mit ihnen zusammen. Es wäre schön, jetzt einen verständnisvollen Mann zu haben, der diese Vorlieben mit Tarina teilte und ihre Gefühle und Sorgen kannte. Der sie nicht nur als Tochter ihres Vaters sehen würde, sondern als eine Frau, die er liebt und respektiert. Doch es quälten sie seit Wochen viel größere Sorgen, sie hatte sich selbst verloren und wusste nicht mehr, wer sie war. Ihr Weg schien ins Nirgendwo zu führen. Ihr Herz war einsam und ihre Gedanken verwirrt.  Der Wunsch überkam sie plötzlich, der See lag so verlockend vor ihr. Ihr Körper schrie geradezu nach einer Erfrischung. Es hatte in den letzten Wochen zwar etwas abgekühlt, doch unter den vielen Lagen Stoff war es immer noch sehr heiß. Sie bestand zwar jeden Tag auf einem Bad, doch es war längst nicht so schön, wie im See schwimmen zu gehen. Als Kind hatte sie das öfter getan, doch seit ihre Rundungen weiblicher geworden waren, erlaubte ihr das der Vater nicht mehr. Es fiel ihm zunächst schwer einzusehen, dass sie zu einer Frau wurde, für ihn war sie nur sein Kind, sein Sonnenschein, den er jedoch Jagen, Reiten und Waffenfertigkeiten gelehrt hatte. Tarina litt eine ganze Weile unter dieser Erziehung, denn sie glaubte, ihr Vater hätte lieber einen Sohn gehabt. Doch vermutlich wusste er einfach nicht besser, wie er sie sonst hätte erziehen sollen. Seit ein paar Monaten sagte er zu ihr öfter, wie ähnlich sie ihrer Mutter sehe. Er schien auf einmal stolz zu sein, eine Tochter zu haben. Und Tarina war stolz, ihrer Mutter so ähnlich zu sein. Der Blick auf den See wurde ein wenig von der Mauer des Rosengartens verdeckt. Sie war an manchen Stellen von Büschen überwuchert, Tarina war sich sicher, dass sie von dort aus niemand beobachten konnte. Der Rest des Gartens hinter ihr lag zwar im Dunkeln, doch dort war nie jemand, weshalb sie nicht weiter daran dachte und die schlanke Gestalt im Gebüsch nicht bemerkte.  Sie öffnete die Schnürungen an ihrem Kleid. Um sie anzukleiden, brauchte es gewöhnlich die Hilfe zweier Mädchen, doch das Ausziehen ging gerade so ohne Hilfe. Ihr Überkleid legte sie behutsam zur Seite, dann warf sie ihr Unterkleid über einen Ast und legte das Überkleid darüber. Tarina liebte dieses Kleid, da es einst ihrer Mutter gehört hatte. Es war aus einem ganz besonderen Stoff, den die Mutter aus ihrem Heimatland mitgebracht hatte. Tarina öffnete ihr Mieder und schlüpfte aus der beklemmenden Enge. Sie löste ihre geflochtenen Haare, ihre braunen Locken fielen ihr bis zur Hüfte. Der Vater liebte Tarinas Haare, seit sie ein Kind war, und so ließ sie sie wachsen. Sie lief ein paar Schritte zu einer Lücke im Schilf. Dort lagen ein paar flache Steine im Wasser, so dass man gefahrlos hineinlaufen konnte. Das Wasser war kühl und weich, es war wie Balsam für ihren Körper und ihre Seele. Für ein paar Minuten konnte sie die Unruhe um sich herum und in ihrem Herzen vergessen. Tarina schwamm ein paar Züge in Richtung Rosenmauer, dort war vor vielen Jahren ein Baum umgestürzt, dessen Äste jetzt ins Wasser ragten. Sie setzte sich auf den dicksten Ast. Es war schön, allein zu sein, die meiste Zeit wurde sie von ihrer Zofe und Freundin Sophie begleitet. Sie mochte sie sehr gern, sie war die Nichte von Tarinas Amme und Tarinas Freundin, seit sie denken konnte. In Gedanken vertieft träumte Tarina vor sich hin.